Der Duden erklärt den Begriff «ganzheitlich» wie folgt: «Etwas das so ist, dass alle Aspekte der Sache berücksichtigt und grössere Zusammenhänge erkannt werden.»
Heute versteht man unter Ganzheitlichkeit die weitsichtige und weit vorausschauende Betrachtung und Behandlung eines Themas unter Berücksichtigung möglichst vieler Aspekte und Zusammenhänge. Ganzheitlichkeit kommt vom Wort Ganzheit und als ganz wurde ursprünglich etwas bezeichnet, das heil, unverletzt und vollständig ist.
Genau dies sind auch die wichtigsten Aspekte der ganzheitlichen Pferdehaltung. Die Pferde sollen als vollständige Wesen gesehen und behandelt werden, als Wesen die aus Körper, Geist und Seele bestehen. Ihre Haltung soll artgerecht sein, so dass ihre natürlichen Bedürfnisse befriedigt werden und sie seelisch, geistig und körperlich unverletzt und heil, also gesund sind und bleiben.
Seelische und geistige Gesundheit bei Pferden?
Um die körperliche Gesundheit der Pferde, kümmert sich heute jeder halbwegs verantwortungsbewusste Pferdehalter. Pferdemenschen wissen, wie viel Bewegung die Tiere brauchen, wie bei Verletzungen erste Hilfe zu leisten ist, wie die Symptome von oft vorkommenden Krankheiten aussehen und wann der Tierarzt oder Tierheilpraktiker gerufen werden muss.
Doch wie erhält man ein Pferd psychisch und geistig gesund und was bedeutet überhaupt psychische und geistige Gesundheit? Mit Meditation und Yoga kommen wir bei unseren Pferden jedenfalls nicht weit.
Schauen wir uns als erstes die psychische Gesundheit an und rufen uns die primärsten Bedürfnisse der Pferde ins Gedächtnis:
Pferde sind Fluchttiere und Pferde sind Herdentiere. Daraus ergeben sich die wichtigsten psychischen Bedürfnisse. Die Natur des Pferdes ist es, sich im Herdenverband einzugliedern und zu bewegen. Entweder im Familienverband mit einem Hengst, diversen Stuten und Fohlen oder im Zusammenschluss von Junghengsten, den so genannten Junggesellengruppen. In der Herde hat hierarchisch jedes Pferd seinen Platz. Die stärksten – normalerweise ein Leithengst und die ranghöchste(n) Stute(n) – übernehmen die Verantwortung der Herde, sie managen quasi das Herdenleben. Die Leitstute führt die Herde zu den besten Weideplätzen und Wasserstellen, sie drängt zum Aufbruch wenn ein Unwetter naht und ist ständig wachsam um die Gruppe vor Gefahren zu warnen. Der Hengst dagegen läuft meistens hinter der Herde her, hat eine gewisse Beschützerfunktion und hält der Gruppe den Rücken frei. Seine Aufgabe ist es in erster Linie, die stärksten, mutigsten und intelligentesten Stuten zu decken und die Arterhaltung zu sichern. Weiter ist er ständig auf der Hut, dass keine fremden Hengste seine Stuten stehlen. Ruht die Herde, halten immer einige Tiere Wache um die schlafenden sofort zu warnen wenn Gefahr droht. Pferde – vor allem auch rangniedrige – können sich also im Herdenverband sicher und geborgen fühlen.
Sicherheit ist für die psychische Gesundheit entscheidend
Daraus ergeben sich die wichtigsten Punkte für die seelische Gesundheit der Pferde: Sie brauchen Sicherheit und um sich sicher zu fühlen, brauchen sie ein geordnetes Gruppenleben mit klaren Strukturen. Egal ob wir unsere Pferde in Gruppenhaltung oder in Einzelhaltung mit Auslauf und Sozialkontakt halten, müssen wir ihnen diese Sicherheit geben. In der Gruppenhaltung ergeben sich die Rangordnung und die Aufgabenverteilung auf natürliche Art. Bei der Einzelhaltung ist es wichtig, dass der Mensch den Rang des Leittieres übernimmt und dem Tier die Sicherheit vermittelt, die es braucht. Aber auch wenn der Mensch die Rolle des Alphas übernimmt, ist es unabdingbar, dass die Pferde zumindest am Zaun und während der Arbeit (z.B. bei Ausritten in der Gruppe), ein gewisses Mindestmass an Sozialkontakten pflegen können. Ein Pferd in Einzelhaft, mit vielleicht einer Ziege zur Gesellschaft, wird sich nie sicher und wohl fühlen.
Ein weiterer ganz wichtiger Punkt damit sich Pferde sicher fühlen, ist die Fluchtmöglichkeit. Pferdeherden bewegen sich am liebsten auf offenen Grünflächen. Dort haben sie die Möglichkeit, sich ruhig und energiesparend, fressend vorwärts zu bewegen. Sie können nahende Gefahren schnell erkennen und sofort darauf reagieren, da sie den offenen Fluchtweg vor sich haben.
Pferde können nicht in Relationen denken, denn diese Denkweise wäre ihr sicherer Tod. Man stelle sich vor, ein Pferd steht neben einer grossen Hecke, plötzlich raschelt es im Gebüsch. Würde das Pferd inne halten und sich überlegen, wenn das ein Raubtier ist, muss ich jetzt flüchten. Wenn das jedoch nur ein Vogel ist, kann ich stehen bleiben, hätte dies schlimme Folgen. Denn wenn tatsächlich ein Raubtier aus dem Gebüsch schiesst, wäre das Pferd bereits lebensgefährlich angegriffen, bis es zu Ende gedacht hätte. Die Natur hat es also so eingerichtet, dass Fluchttiere dieses Denken in Relationen gar nicht zur Verfügung haben. Beim ersten Rascheln flieht es ohne nachzudenken und rettet sich so in vielen Fällen das Leben.
Und nun stellen wir dem gegenüber, was wir unseren domestizierten Pferden auftragen. Wir halten sie in vier Wänden, absolut ohne Fluchtmöglichkeit. Und wenn wir mit ihnen arbeiten, ausreiten oder spazieren gehen, möchten wir auf keinen Fall, dass sie zur Seite springen oder sogar losrennen wenn sie sich erschrecken. Unsere menschlichen Ansprüche verschliessen dem Pferd jede Fluchtmöglichkeit. Wir trainieren ihm die natürliche Verhaltensweise ab. Ich persönlich finde nicht, dass dies per se schlecht ist oder sogar tierquälerisch. Wir müssen uns aber bewusst sein, welch schwierige Aufgabe dies für ein Pferd darstellt. Um es dem Tier in unserer Obhut und mit unseren Ansprüchen so einfach wie möglich zu machen, müssen wir alles daran setzen, sein Vertrauen zu gewinnen und ihm dadurch die Sicherheit zu geben, die es braucht, um ohne natürlichen Herdenverband und ohne Fluchtmöglichkeiten psychisch gesund zu bleiben.
Im zweiten Teil dieser Serie werde ich auf die geistige Gesundheit der Pferde eingehen. Schaut also bald mal wieder auf dieser Seite vorbei.